03.—30. Juni 2022
Kowitsch — fotografiert während der letzten 12 Jahre, in der Ukraine, beschreibt diese Serie den ungewissen Zustand eines Landes unter Beschuss. In Farb- und Schwarz-Weiß-Fotografien widmet sich Robin Hinsch dem Tauziehen zwischen Ost und West. Die Ukraine ist schon lange unfreiwillig zum zentralen Schauplatz dieser Auseinandersetzung geworden. In den vergangenen Jahre wurde es einem nur leicht gemacht, dies zu übersehen.
Mit freundlicher Unterstützung von der Fleetinsel GmbH.
Im Rahmen der EXPANDED Triennale of Photography Hamburg.
Das fotografische und filmische Projekt KOWITSCH entstand 2010 bis 2022 in einer Nation, die in der jüngsten Geschichte und Gegenwart wie keine eine andere in Europa durch Grenzverschiebungen und damit verknüpfte Kriege geprägt ist. Die Ukraine liegt in einem Gebiet, das von »Phantomgrenzen« durchwirkt ist, »frühere, zumeist politische Grenzen oder territoriale Gliederungen, die, nachdem sie institutionell abgeschafft wurden, den Raum weiterhin strukturieren« 1. Diese werden heute von russischer Seite als Narrativ einer schlummernden russischen Identität zur Legitimierung des Angriffskrieges, der militär- und machtstrategische Ziele verfolgt, politisch instrumentalisiert. KOWITSCH lädt dazu ein, den Blick und die Aufmerksamkeit in der Zeit ausdehnen. Die Aufnahmen zeigen die kriegerische Zerstörung anonym wie eine Flut oder einen Vulkanausbruch, denn der „Gegner“ bleibt in den meist einsamen Szenerien ungesehen. Die Geschosse, abgefeuert aus der Ferne und motiviert durch machtstrategische Überlegungen des Kreml, schlagen in die Wohnviertel und Einkaufszentren der portraitierten Menschen ein, die Robin Hinsch seit 2010 fotografiert hat.
Der Kontrast zwischen moderner Architektur, einsamer Stadtlandschaft und Zerstörung assoziiert Szenen aus dystopischen Filmen. Denn nicht die Wirklichkeit, sondern primär das Kino Hollywoods produzierte in den letzten zwei Jahrzehnten Bildwelten, in denen Menschen in Europa und mit „westlichem“ Lebensstil von Krieg und Zerstörung dieses Ausmaßes betroffen sind. Entkleidet steht die Shopping und Business Mall Retroville als offenes Gerippe auf einem weiten, von Trümmern und Rauch übersäten Platz in Kyjiv. Seit 2020 bildete sie das neue Shoppingerlebnis der Stadt, bis sie am 20. März 2022 vom russischen Militär durch einem Raketenangriff zerstört wurde, bei dem acht Menschen ihr Leben verloren. Die offen stehende Tür eines zurückgelassenen Van sowie die aufgerissene Curtain Wall des Hochhauses starren wie aufgerissene Augen unter dem hellblauen Himmel ins Sonnenlicht. Eine weitere Aufnahme eines Einkaufszentrums in Kyjiv zeigt die eingestürzten Metallstrukturen des Warenhauses der Lavina Mall. Die Komposition zeigt unterschiedliche Ebenen des Materials, verbogene Metallstrukturen von denen noch Rauch aufsteigt und die wie Hügel im Nebel anmuten.
Die Normalität in einem Land, das der Austragungsort von übergeordneten globalen Machtinteressen ist, und der Alltag in einem Zustand der Spannung, Bedrohung und Unsicherheit manifestiert sich in den Portraits durch Menschen mit klarem Blick, die Selbstbestimmung, Resilienz, Trauer und Hoffnung zum Ausdruck bringen. Die öffentliche Aufmerksamkeit sowie das individuelle Gefühl gegenüber dem Leiden Anderer, betroffen von kriegerischen und politischen Handlungen, ist nicht normiert. Es variiert in dem Maße, in dem sich die Betrachter:innen mit den Menschen spiegelnd identifizieren, sich in ihnen wiederkennen. Empathie ist keine universale oder neutrale Währung, sie ist vielmehr selektiv, denn sie folgt u.a. dem Bias subjektiven Ähnlichkeitsempfindens. Seine Forschung zu den Verhaltensmustern emphatischer Handlungsimpulse veranlasste den Psychologen Paul Bloom deshalb zur Publikation mit dem programmatischen Titel Against Empathy: The Case for Rational Compassion, in der er emphatische und moralische Zugänge differenziert und zu einem reflektierten Umgang mit emphatischen Gefühlen rät. 2 Diese Biases räsonieren im Umkehrschluss in den Mechanismen von Othering 3, die Konstruktion eines:r Anderen, dem:r keine Empathie verdient, wie sie die Fotografie sowohl reproduzieren wie dekonstruieren kann.
In den Aufnahmen von Robin Hinsch gibt es keine Fokussierung und Überzeichnung von Leid und es sind weniger die physischen Eigenschaften der Portraitierten, als oftmals Berührungen und sensorische Erfahrungen der Dargestellten, die in den Vordergrund treten. Das Streicheln des Kopfes eines Hundes, das Reiten eines Pferdes, das Anlehnen an einen Baum und das Sitzen in seinem Laub, evozieren in den Betrachtenden eigene Erinnerungen. Es sind Momente des Kontakts, der Vergewisserung präsent zu sein und Gesten der Verbundenheit, die auch durch politische, propagandistische Narrative in ihrer Wirkkraft nicht zu schwächen sind.
Ein Doppelportrait aus dem Jahr 2012, aufgenommen in Belgorod, zeigt einen besonderen Jungen mit einem Hund. Besonders ist sein Blick, gleichsam scheu wie selbstbewusst. Er will mit seiner sperrigen Eleganz nicht recht in den leeren Parkplatz hineinpassen, der ihn und den Hund an seiner Seite architektonisch rahmt. Der ruhige Körperkontakt mit dem Tier, das den Kopf an die Hand Daniels hält, sowie sein direkter Blick in die Kamera, aus mittlerer Entfernung, lässt die beiden als souveräne Einheit erscheinen. Daniel, der Theaterregisseur werden möchte, hat sich bewusst für dieses Bild entschieden, es ist seine souveräne Inszenierung im Dialog mit dem Fotografen. Zur Entstehungszeit der Aufnahme vielleicht 10 Jahre alt könnte Daniel heute 20 und damit wehrpflichtig sein. Robin Hinsch gibt seinem Gegenüber im doppelten Sinne Raum. Kompositorisch stehen die Akteur:innen seiner Portraits frontal, aufrecht und mit klarem Blick in ihrem alltäglichen Umfeld, das im fotografischen Bild zur Bühne ihrer Präsenz und Existenz wird. Der Fotograf tritt einige Schritte zurück, wodurch der freie Umraum die Protagonist:innen rahmt und ihnen eine Zone der Souveränität und Ruhe schafft. Teils verschmelzen in den Protagonist:innen der Fotografien Elemente von Jugendkultur wie Sport, Gaming und Internetphänomene mit den Konflikten gesellschaftlicher Wirklichkeit.
Eine Aufnahme am Ort der Maidan Revolution von 2014 zeigt einen jungen Mann der Maidan Self-Defense, gekleidet in einer Mischung aus Eishockey-Sportkleidung, einem schwarzen Schild und einer Eisenstange, die er wie eine Ritterrüstung trägt. Eine Gasmaske sowie ein Palituch um den Hals, trägt er dazu auf dem Stahlhelm eine orange verspiegelte Motorcross-Brille. In seiner Montur und Pose gleicht er einer Figur aus dem action-adventure Game MadMax. Diesen hybriden Effekten, in denen sich die Ästhetiken digitaler Bildwelten und ihre Inszenierungspraktiken in die Handlungen der Gegenwart einschreiben, und den virtuellen und realen Raum in Beziehung setzen, spürt die Serie KOWITSCH fotografisch nach. Dadurch wird sie einer Generation gerecht, die ihre Lebenszeit sowohl in digitalen wie realen Gemeinschaften und eben allem was dazwischen liegt verbringt.
In dem Gitter eines Bauzaunes steckt ein Metallfragment wie ein grauer Vogel in einem Fangnetz. Diese Fetzen eines Munitionskörpers zielen auf die Verwundung der Gegner auch durch das Streuen von Splittern. Das Fragment der Munition wird hier als Puzzlestück eines größeren Ganzen lesbar. KOWITSCH nimmt Menschen und Räume in den Blick, die mit dem größeren politischen Geschehen in Verbindung gebracht werden könnten, die jedoch auch Fetzen von individuellen Lebensgeschichten erzählen. Die narrative Ebene bleibt jedoch offen — es gibt nur das eine Bild, keine Bildserien, die Protagonist:innen begleiten und ihr Leben in seinen diversen Aspekten abzubilden suchen. Es sind vielmehr Begegnungen am Wegesrand.
Die Filmarbeit spitzt diese Praxis der zufälligen, vielleicht schicksalhaften Begegnung zu und dehnt sie in der Zeit aus. Die Arbeit zeigt im Rhythmus einer Diashow Aufnahmen gefundener analoger Fotografien, von Robin Hinsch fotografiert auf grauem Archivkarton. Seine Fotografien geben den gefundenen Bildern aus verschiedenen Jahrzehnten ukrainischen Alltags viel Raum, der sie als kleinformatige, handliche Fotografien aus privaten Alben, Archiven des Alltags, ausweist. Bei 19:50 min ist ein Gruppenportrait von drei Teenager-Freundinnen beim Picknick in der Natur zu sehen. Sie sind vielleicht für die Aufnahme noch enger zusammengerückt, lehnen aneinander auf ihrer Picknick-Decke im Freien. Die Diskrepanz zwischen Jugend, Leben, Freundschaft und dem Krieg spannt sich in diesem wie zahlreichen anderen Bildfunden als unüberbrückbare Distanz auf. Wie die Tonspur des Soundtracks von Störgeräuschen durchbrochen wird, sind die privaten Archive von Soldatenportraits durchsetzt. Die von Schutt zerkratzten Schallplatten mit Songs aus der Ukraine, Belarus, Russland und Georgien, die hier vertont wurden, erhielt der Fotograf in einer ausgebombten Schule in Pisky mit den Worten ”Take it, nobody listens to music here anymore.“
In einer anderen Aufnahmen sitzt eine junge Frau im späten Teenager Alter auf einem schwarzen Pferd. Im Hintergrund einige historische Häuser, Backstein-Kamine und durch den aufgebrochenen Asphalt unter ihnen ziehen sich Risse wie Bäche durch die schmale Straße. Aufgenommen in der Stadt Mariupol im Jahr 2015 erscheint die junge Frau zu Pferd heute wie ein heroisches, feministisches Reiterbildnis als Sinnbild einer jungen Generation, die in diesem Angriffskrieg um ihre Zukunft ringt. Diese gleichsam alltäglichen wie magischen Begegnungen an den Rändern urbaner Räume entwerfen ein Portrait junger Menschen, deren Wege sich mit politischen Unruhen, Widerstandstandsbewegungen gegen autokratische und autoritäre Tendenzen und militärischer Konfrontation kreuzen werden. Das Heraufziehen des Erwachsenwerdens und das „Coming to age“ Lebensgefühl durchzieht die Bilder wie eine Spur Trotz, eingebettet in einen Kontext, dessen politische und militärische Agenda nur bedingt Raum für unbeschwerte Freiheit lässt. Wie es Lil Nas X ebenfalls zu Pferd rappt, Can’t nobody tell me nothing. You can’t tell me nothing, spricht es aus diesen Bildern. Text: Nadine Isabelle Henrich
1 Hannes Grandits, Béatrice von Hirschhausen, Claudia Kraft, Dietmar Müller, Thomas Serrier: »Phantomgrenzen im östlichen Europa. Eine wissenschaftliche Positionierung«, in Ibid. Phantomgrenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu denken, Wallstein-Verlag, Göttingen 2015, S.18.
2 siehe Paul Bloom, Against Empathy: The Case for Rational Compassion, Ecco Books, New York 2016.
3 Der Begriff ›Othering‹ ist im Kontext der postkolonialen Theorie (Siehe Edward Said oder Gayatri C. Spivak) entstanden und bezeichnet einen permanenten Akt der Grenzziehung, der Kategorisierung und der Konstruktion »des:r Anderen« im Unterschied einem »Wir«.
Eröffnung: 02. Juni 2022 von 18:00 bis 21:00 Uhr
Öffnungszeiten: Mi.–Fr. 14:00–18:00 Uhr & Sa. 13:00–15:00 Uhr