Robin Hinsch
Schweres Atmen
14. November—20. Dezember 2024
Robin Hinsch: Schweres Atmen, 2024
Text von: Sophie-Charlotte Opitz
In „Schweres Atmen“ setzt sich der Fotograf Robin Hinsch auf zugleich behutsame und prägnante Weise mit dem Status quo der deutschen Geschichte auseinander. Verlassene Bauruinen, poröses Mauerwerk und morsches Gebälk erscheinen in seinen Fotografien als Relikte vergangener Zeiten, die von den vielen Geschichten Deutschlands zeugen, aus denen sie hervorgegangen sind. Der fortwährende Zerfall, den Hinsch dokumentiert, macht sichtbar, dass, obwohl die Vergangenheit die Gegenwart geprägt hat, auch die Erinnerung an diese erodiert.
Das, was Hinsch in seinen Fotografien zeigt, sind im Sinne des Philosophen Marc Augé gleichermaßen Nicht-Orte und Un-Orte. Während sich Nicht-Orte durch das Fehlen kultureller Bedeutung auszeichnen, sind Un-Orte durch ihre Topografie geprägt, die eine kulturelle Interaktion mit ihnen unmöglich macht. Diese Präsenz einer Absenz, die den fotografierten Orten innewohnt, drückt sich auch in Hinschs Bildern als Spuren des Vergänglichen aus: Tiefe Furchen und Risse, Schutt und abgeplatzte Farbe fordern einen heraus, nicht nur die Geschichte, die die eigene Identität formt, zu hinterfragen, sondern auch die Erinnerung an diese.
Hinsch entfernt sich von einer klassischen Dokumentation tradierter lieux de mémoire (frz.: Erinnerungsorte). Nur wenige Fotografien zeigen Denkmäler oder Erinnerungsstätten. Meistens nähert er sich den Details, observiert das Gesehene durch den Sucher seiner Kamera. Nicht nur im Bild, sondern auch im Ausstellungsraum kehrt Hinsch die intendierte Wirkung des Monumentalen um: Im öffentlichen Raum wird das Denkmal per definitionem platziert, um Raum einzunehmen, kollektive Erinnerung zu konstruieren und Gedanken zu lenken. Doch hier, im Raum der Ausstellung, übermannt das Umfeld das Monumentale. Dies gelingt dem Künstler, indem er seine Fotografien kleinformatig druckt und mit großen Zwischenabständen an den Wänden anordnet. Die Betrachter:innen können sich zwischen den Fotografien frei bewegen. Das Gleiche gilt für ihre Gedanken. Hier diktiert nicht das Denkmal das Gedenken; vielmehr lädt die offene und fragmentarische Gestaltung des Visuellen und seine Präsentation im Raum dazu ein, sich selbst in der Geschichte zu verorten und eigene Schlüsse über das Ges(ch)ehene zu ziehen. Dieser Anspruch wird auch darin verdeutlicht, dass neben Denkmälern auch weiteren Objekten und Orten eine Geschichtsträchtigkeit zugesprochen wird. Fotografien von Butterstücken, Metallschrott und Bushaltestellen entbehren jeglichen Denkmalcharakters und haben dennoch – so verdeutlicht es „Schweres Atmen“ – ein erinnerungskulturelles Potenzial.
Nie aufdringlich, sondern subtil, verweist Hinschs Fotografie auf die zugleich drastische und oft unbekannte Bedeutung, die die Geschichte für die Gegenwart hat. Die Bildbeschreibungen, die Hinsch seinen Werken beifügt, lassen die Realität in die Bilder kippen: Ein Foto wild-wuchernder Bäume und Sträucher entpuppt sich in der Bildbeschreibung als Moorfleet. Der Hamburger Stadtteil, der den Übergang von Marschland zum Industriegebiet markiert, liegt direkt an der Dove-Elbe, einem Seitenarm der Elbe, der im Sommer gerne als Badestelle genutzt wird. Doch dieses städtische Idyll gründet auf den Gräueltaten der Nationalsozialist:innen. Sie zwangen Häftlinge des Konzentrationslagers Neuengamme Teile der Seitenarme der Dove-Elbe auszuheben. Die heutige Freude über das erfrischend-kühle Nass des Flusses ist folglich ein Produkt des Holocaust.
Gerade weil Hinsch eine Bildsprache wählt, die solche Zusammenhänge nicht plakativ präsentiert, sondern die leise und unaufdringlich bleibt, trifft einen die Geschichte, auf der das Bild basiert, mit umso größerer Wucht. Das Atmen fällt schwer. Gleichzeitig erinnert es daran, wie Heiner Müller in Germania. Tod in Berlin beschreibt, die „Lücken im Mythos der Deutschen“ zu erkennen, „die noch nicht durch die Taten hoffnungslos verstopft sind.“ Hinschs Fotografien eröffnen solch einen lückenhaften Raum, in dem das Heute mit der Vergangenheit und der Erinnerung an sie ringt. Ohne Pathos verweist er hierdurch auf die Fragilität kultureller Identität und gesellschaftlichen Miteinanders. Da der fragmentarische Charakter von Hinschs Fotografien keine Hoffnung auf konkrete Antworten lässt, appellieren diese Leerstellen an die eigene Handlungsfähigkeit. Nur dann, wenn das Gegenwärtige in den Spiegelscherben der Vergangenheit erblickt wird, kann die Zukunft einer Gesellschaft gestaltet werden.
- Augé, M. (2014). Nicht-Orte (Beck’sche Reihe, Bd. 1960, 4. Aufl.). (Bischoff, Michael, Übers.). München: C.H. Beck. (Originalarbeit erschienen 1992)
- Nora, P. (Hrsg.). (2005). Erinnerungsorte Frankreichs. Mit einem Vorwort von Etienne Francois. (Bayer, Michael, Übers.). München: C.H. Beck.
- Müller, H. (1977). Germania Tod in Berlin. Berlin: Rotbuch Verlag
Opening on November 14, 2024, 6 pm
Öffnungszeiten: Thurs. and Fri. 15:00-18:00 and Sat. 13:00-15:00 by appointment